Massaker von Tbilissi

Aufstand für Stalin und unabhängiges Georgien

Jossif Dschugaschwili, besser bekannt als Stalin, hatte fast drei Jahrzehnte lang die Sowjetunion geführt. Er hatte um sich herum einen Personenkult betrieben. Millionen von Menschen sind seinen Säuberungen zum Opfer gefallen. Als er im März 1953 starb, war die Sowjetunion voll der Trauer, und selbst heute hat er nicht nur in seiner Heimat Georgien Anhänger. 

Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow setzte drei Jahre später eine Politik der Entstalinisierung um. Dies traf nicht überall auf Gegenliebe. In der georgischen Hauptstadt Tbilissi kam es zu einem Massaker, bei dem die Rote Armee mindestens 80 Menschen getötet hat. 

Chruschtschows Geheimrede

KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow hielt am 25. Februar 1956 vor dem 20. Parteitag eine geheime Rede, in der er mit der Politik seines Vorgängers Stalin abrechnete. Er prangerte die Massenmorde und die Vergehen von Stalin an. Diese Rede markierte den Anfang der Politik der Entstalinisierung in der Sowjetunion und das Ende des Personenkults um Stalin. 

Georgier sehen sich in Nationalstolz verletzt

Die Rede von Chruschtschow war nur für die Ohren der Parteioberen der KpdSU bestimmt. Über Umwege der Geheimdienste gelangte sie in den Westen. Aber auch innerhalb der Sowjetunion selber machten die Inhalte der Rede die Runde. Auch in der Georgischen Sozialistischen Republik. 

Viele Menschen in Georgien kannten die Zeit vor Stalin nicht mehr. Sie waren mit ihm aufgewachsen. Er hatte, so sah es der Personenkult, nicht nur den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen und Hitlerdeutschland besiegt, er hatte die Sowjetunion auch von einem Bauernstaat zu einem Agrarstaat gemacht. Er hatte die Weltpolitik dominiert. Und er war gebürtiger Georgier, worauf man besonders stolz war. Über ein paar Millionen Todesopfer, Schauprozesse und willkürliche Strafen oder Todeslisten durfte man ohnehin nicht reden. All dies hatte zur Folge, dass der Nationalstolz der Georgier angegriffen wurde, vor allem der Stolz der jüngeren Menschen in Georgien. 

Welle von Demonstrationen in Georgien

Bereit vor dem Jahrestag von Stalins Tod am 5. März 1956 kam es vor seinem Denkmal in Tbilissi zu spontanen Kundgebungen. Diese zogen Demonstrationen in anderen Teilen der Georgischen SSR nach sich. 

Zum Todestag von Stalin, dem 5. März, zogen rund 150 Studenten zum Stalin-Denkmal. Sie zeigten, wie seinerzeit in der Sowjetunion üblich, Porträts des großen Vorsitzenden, trugen rote Fahnen mit Trauerschmuck und legten Blumen vor dem Denkmal nieder, um Stalin zu ehren. Autofahrer wurden gedrängt, mit der Hupe ihr Andenken auszudrücken. 

Geheimrede wird öffentlich

Am zweiten Tag des Aufstandes, dem 6. März 1956, gelangte die bislang geheim gehaltene Rede von Chruschtschow über die Kommunikationswege der Partei nach Georgien. Eine Zusammenfassung dieser Rede wurde bei öffentlichen Veranstaltungen verlesen. Sie wurde in den seinerzeit üblichen Medien verbreitet. Es gab Gerüchte über eine Sondersitzung des Ministerrates der Georgischen SSR. Dies heizte die Stimmung weiter an. 

Tausende gehen auf die Straße

Einen Tag später, am 7. März 1956, schlossen sich Schüler den Demonstrationen der Studenten in Tbilissi an. Damit hatten die Kundgebungen mehrere Tausend Teilnehmer. Diese zogen zum Sitz der Regierung auf den Rustaweli-Prospekt, wo sich heute das Parlamentsgebäude befindet. Dazu hupten die Autofahrer und es gab Sprechchöre zu Ehren von Stalin. 

Die Demonstranten arbeiteten Forderungen an die Parteiführung aus. So sollte der Geburtstag von Stalin, der 18. Dezember, zu einem offiziellen Feiertag erklärt werden. In allen Zeitungen sollten Artikel über Stalin erscheinen. Dazu gehörte auch, dass in den Kinos Filme des georgischen Regisseurs Micheil Tschiaureli über Stalin gezeigt werden sollten, in denen Personenkult um Stalin betrieben wurde. 

Die Menge von Demonstranten in Tbilissi war zu diesem Zeitpunkt bereits auf rund 70.000 Teilnehmer angestiegen. 

Demonstranten fordern Unabhängigkeit für Georgien

Am folgenden Tag, dem 8. März 1956, heizte sich die Stimmung bei der Demonstration weiter auf. Es gab Kritik an der Regierung, weil es keine Trauerbeflaggung zu Tode von Stalin in Tbilissi gebe. Auch zeige man in öffentlichen Gebäuden keine Bilder von Marx, Engels, Lenin oder Stalin mehr. Die Menge zog daraufhin zum Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte und klopfte gegen das Tor. 

Auf dem Leninplatz in Tbilissi, heute Freiheitsplatz, wurde eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Sprecher forderten dort die Unabhängigkeit Georgiens. 

Das öffentliche Leben begann zusammenzubrechen. Die Straßen in der Innenstadt von Tbilissi waren voll von Demonstranten. Diese begannen Barrikaden zu errichten. Autos und Busse wurden umgeworfen. Zwischen Demonstranten auf der einen und Autofahrern sowie der Polizei auf der anderen Seite gab es Streitigkeiten. 

Mehrere Organisatoren der Proteste wurden verhaftet. Dies beruhigte die Menge nicht. Im Gegenteil. Nicht nur die Zahl der Demonstranten wuchs weiter, ihre Stimmung wurde auch zunehmend aggressiver. 

In den Straßen gab es Sprechchöre gegen Chruschtschow. Die Regierung in Tbilissi begann die Kontrolle über die Vorgänge zu verlieren. Überrascht vom Ausmaß der Demonstrationen begann sich die Polizei mehr und mehr zurückzuziehen. 

Demonstrationen scheinen Erfolg zu haben

Die Menge der Demonstranten vergrößerte sich am 9. März 1956 noch einmal. Nach Studenten und Schülern schlossen sich nun auch Angestellte und Arbeiter den Demonstrationszügen an. Zuerst sah es so aus, als hätten die Demonstranten Erfolg und die Leitung der Partei würde ihren Forderungen nachgeben. Der georgische Parteichef Wassili Mschawanadse sagte in einer öffentlichen Rede, man wolle die Anliegen der  Bevölkerung berücksichtigen. 

Die Demonstranten verteilten nun Flugblätter, in denen sie die Unabhängigkeit Georgiens forderten. Zudem schwenkten einige Demonstranten Fahnen der Demokratischen Republik Georgien, die 1918 gegründet und 1921 von den Sowjets erobert worden war. 

Am Abend des gleichen Tages versammelten sich vor den Denkmälern von Stalin und Lenin erneut Demonstranten und hielten Reden, deren Inhalte gegen die Sowjetunion und dafür auf den Aufbau eines Nationalstaates gerichtet waren. 

Soldaten schießen auf Demonstranten

Um 23:45 Uhr am 9. März 1956 unternahmen die Demonstranten den Versuch, in die Radiostation und das Telegrafenamt einzudringen. Nun ging die Sowjetische Armee mit Gewalt vor und eröffnete das Feuer auf die Demonstranten. Dabei kamen Truppen zum Einsatz, die nicht aus Georgien stammten, um Verbrüderungen zwischen Soldaten und Demonstranten zu verhindern. Die Armee ließ Panzer in der Innenstadt von Tbilissi auffahren. Den Waffen der Sowjets aus Panzerstahl standen die Demonstranten fast wehrlos gegenüber. Sie wehrten sich mit Messern, Steinen und Gürteln. Die Kämpfe dauerten bis um 3:00 Uhr in der Nacht an. 

Dabei kamen viele Menschen ums Leben. Offizielle Zahlen zu diesem Massaker sind niemals veröffentlicht worden. Quellen gehen von wenigstens 80 Toten aus, andere sprechen von 150 Toten, weitere von bis zu 800 Toten, die der Einsatz der Sowjetischen Armee gegen die Demonstranten forderte. Zu den Toten kommen noch Hunderte von Menschen, die verwundet oder verhaftet worden sein sollen. Rund 200 Menschen sollen verhaftet und nach Sibirien deportiert worden sein. 

Proteste erreichen Gori

Die Proteste erreichten am frühen Morgen des 10. März 1956 auch Gori, die Geburtsstadt von Stalin. Demonstranten stürmten auf das Gelände der Textilmühle und berichteten, in Tbilissi sei ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Menschen in Gori wurden in der Nacht aus den Häusern geholt. Man fuhr nun mit Lastwagen in Richtung Tbilissi. 

In der Hauptstadt der Georgischen SSR hatte die Sowjetmacht jedoch in der Zwischenzeit die Macht zurückerobert. Alle öffentlichen Plätze waren von Soldaten besetzt. Als die Lastwagen aus Gori eintrafen, wurden sie von Warnschüssen der Soldaten aufgehalten. Der Aufstand war damit niedergeschlagen. 

Folgen in Georgien für mehr als 20 Jahre

Das Trauma des Massakers in Tbilissi blieb im Bewusstsein der Georgier haften. Öffentlich durfte niemand bis zum Ende der Sowjetunion mehr als 40 Jahre später darüber reden. Die Menschen in Georgien hat dieses Ereignis jedoch nachhaltig geprägt. Bis 1978 kam es in Georgien nicht mehr zu öffentlichen Protesten.