Dimitri Kimeridze: Auf den Spuren meines Großvaters

Französisches Tagebuch

Der zweite Weltkrieg hat Familien in allen Teilen Europas auseinander gerissen. Nicht nur in Deutschland und Frankreich, auch in der früheren Sowjetunion. Eine Familie ist die meinige, und der Mensch, den ich nie kennen lernen durfte, war mein Großvater: Dimitri Kimeridze.

Was ich über ihn wusste, habe ich aus Erzählungen meiner Eltern und aus den wenigen Briefen, die uns erreicht haben. Als Vater von drei Kindern hätte er zu Hause bleiben dürfen. Seiner Heimat zuliebe zog er 1942 in den II. Weltkrieg, im Alter von 34 Jahren. Als Freiwilliger... Er hat seine Frau und seine drei Kinder zu Hause zurückgelassen. Mein Vater war damals 6 Jahre alt, und er konnte sich noch an die Worte seines Vaters erinnern: Wie kann ich in den Frauen meiner Freunde in die Augen sehen, wenn ihre Männer in den Krieg gezogen sind?

Im Krieg geriet er in Gefangenschaft. Nach dem Krieg sah er sich, genauso wie seine Kameraden, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, vor die Wahl gestellt: entweder mussten sie im fremden Land bleiben, oder sie würden nach Sibirien deportiert. Er hat das erste gewählt in der Hoffnung, dass sich in der Sowjetunion etwas ändern würde und er in die Heimat zurückkehren könnte. Zuerst hinderte ihn daran das Regime Stalins, dann meldeten sich die Kriegswunden. Er hat sein restliches Leben in der Fremde verbracht. Bei Peugeot in Sochaux bekam er eine Stelle. Dort arbeitete er bis zu seiner Rente. «Ich möchte dort sterben und begraben werden, dort ist meine Heimat». Das war sein Traum. Er ist nicht in Erfüllung gegangen, er ist in der fremden Erde begraben. Als letztes kam der Brief eines Freundes aus dem Jahr 1986, dass Dimitri verstorben und in Montbéliard begraben sei. Von seinem Tod hat uns ein Freund berichtet.

In seinen Briefen konnten wir ermessen, welche Sehnsucht Dimitri in der Fremde hatte. Er lebte immer in Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren. Seine Schmerzen hat in seinen Gedichten ausgedrückt. „Mein Füller ist mein einziger Schatz“, hat er niedergeschrieben. Von ihm haben wir viele Briefe bekommen. Er hat allen Verwandten geschrieben und ihnen Gedichte gewidmet. Er hat nie geklagt, dass das Schicksal ihn in die Fremde verschlagen hat und er vom Leben enttäuscht war. Details über sein Leben hat er nie geschrieben. Wir wussten, dass er Gedichte schrieb und Artikel in dortigen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat. 3 Bücher mit seinen Gedichten sind erschienen.

1921 kamen die Sowjets nach Georgien und beendeten drei Jahre der Demokratie. Viele Georgier sind nach Frankreich ausgewandert. Sie haben sich an zwei Stellen angesiedelt: Südlich von Paris und in Sochaux. Ich habe versucht, im Internet Spuren der Vereine zu finden, doch es gab nur spärliche Informationen.

Das waren die Fakten, die wir über meinen Großvater wussten. Ich selbst bin Ende der 1990er Jahre zum Studium nach Deutschland gekommen. Von meinen Verwandten konnte niemand sein Grab und die Ortschaften besuchen, wo er sein Leben in der Emigration verbracht hat. So haben mein Mann, Thomas Berscheid, und ich uns entschieden nach Frankreich zu fahren. Wir hatten die Hoffnung, sein Grab zu finden und vielleicht mehr Details über sein Leben zu erfahren.

Gleich am ersten Tag in Frankreich haben wir uns auf dem Weg zum Friedhof gemacht. Wir haben nicht lange gebraucht, um georgische Namen zu entdecken. Als erstes fielen mir folgende Worte auf: «Jenen Georgiern, die sich der Heimat geopfert haben». Mit einem Atemzug habe ich die Namen gelesen. Hier war er: Dimitri Kimeridze. Mir stockte der Atem. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl: Vor Freude und gleichzeitig vor Trauer konnte ich mich kaum der Tränen enthalten. Anders konnte ich auch nicht, weil ich wusste, dass ich als einziges Enkelkind 20 Jahre nach seinem Tod zu seinem Grab gekommen war.

Vor einigen Jahren habe ich Erde aus seiner geliebten Stadt Chaschuri mitgebracht. Ich habe diese Erde auf die gemeinsame Gruft der Georgier gestreut, georgische Kerzen angezündet und den Kopf vor den Gräbern unserer Vorfahren verneigt. Und wir haben auch gesehen, dass sein Freund nicht mehr lebte. Wir haben auch seine Adresse aufgesucht. Es gab keinen georgischen Namen mehr dort.

Aus Georgien hatte ich auch Dimitris Briefe bei mir, die ich nach Frankreich mitgenommen habe. Ich habe gehofft, etwas Neues zu entdecken, was uns bei der Spurensuche helfen könnte. Viel Konkretes habe ich nicht gefunden. Da er Angst um seine Familie hatte, dass ihnen etwas zustoßen könnte, schrieb er nie Details in seinen Briefen. Nur die Postadresse kannten wir. Wir sind hingefahren und waren enttäuscht: Ein großes Haus. Aber er hatte doch keine Familie?

Erst Tage später sollten wir erfahren, dass es doch das richtige Haus war.

Aus den Briefen wusste ich, dass es in Sochaux einen georgischen Verein gab. Im Telefonbuch haben wir uns auf die Suche nach georgischen Namen gemacht. Und wir wurden fündig. Die Enkelin des Freundes, der uns 20 Jahre zuvor den Brief mit der traurigen Mitteilung geschrieben hatte. Und sie wohnte nur wenige Häuser weiter von der alten Adresse. Leider sprach sie kein georgisch. Mein Mann musste seine Schulkenntnisse an die Frau bringen. Sie gab uns eine Telefonnummer: Der Vorsitzende der georgischen Vereinigung Christian Tschirakadze. Auch er sprach kein georgisch. Und sagte dann, wir könnten schon am nächsten Tag vorbei kommen und uns Dimitris Archiv ansehen.

Am Abend vorher drehten sich unsere ganzen Gedanken um das Archiv. Kann es wirklich sein, dass 20 Jahre nach seinem Tod seine persönlichen Sachen aufgehoben wurden? Was kann uns erwarten? Ein paar Gedichte und Fotos? Vielleicht ein paar Briefe, ein paar Blatt Papier. Können wir denn Kopien davon machen? Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen.

Am nächsten Morgen fuhren wir zur angegebenen Adresse. Frau Tschirakadze hat uns ins Haus eingeladen und auf den Papierstapel gedeutet. Ein paar Briefe? Der gesamte Küchentisch war voll mit Briefen, Büchern, Bildern, Notizheften, Dokumenten. Ich warf einen Blick auf ein Foto. Ein bekanntes Gesicht! Mein Großvater! Mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Zuerst griff ich nach alten Briefen. Ich nahm den ersten Brief, der oben auf dem Stapel lag. Die Schrift kam mir bekannt vor. Mir stockte der Atem. Die Schrift meiner Mutter! Dann von meiner Tante! Sie erzählte von der Enkelin, die nur Wochen zuvor auf die Welt gekommen war.

Von mir.

Meine Familie. Unser Leben. Er hat alles aufbewahrt.

Dann griff ich nach den Heften mit Gedichten. Ich war erschlagen von der Menge. 40 Jahre Emigration. Alle seine Gefühle hat er in diesen Gedichten ausgedrückt. Jedes Heft hat einen Titel: Flammen aus dem Herzen, der Heimat, Jugendträume u. s. w. Wir haben später gezählt: Es waren etwa 40 Bände, die er mit Gedichten gefüllt hat.

Außer den Dokumenten ist alles in Georgischer Sprache. Mein Mann hat angefangen, in den Dokumenten zu blättern. Der Ausweis eines Flüchtlings! Der Aufenthalt wurde einige Male verlängert. Er hat nie die französische Staatsangehörigkeit angenommen, er ist immer Georgier geblieben!

Inzwischen ist auch unser Gastgeber gekommen. «Er hat ein georgisches Gesicht», dachte ich mir. Schade, dass er kein Georgisch kann, ich würde gerne so viele Fragen stellen. Thomas versuchte, das Gespräch zu führen. «Ich kannte Dimitri, aber damals war ich jung. Daher kann ich nicht viel über ihn erzählen. Ich kann mich aber erinnern, dass er ein sehr guter Mensch war», sagte uns Herr Tschirakadze. Ich habe mich gefreut, dass ich wenigstens etwas von einem Zeitgenossen über meinen Großvater gehört habe. Ich hatte keine Hoffnung mehr, dass wir noch etwas erfahren würden. Dann fragten wir nach dem Haus, vor dem wir gestanden haben. Er bestätigte uns, dass Dimitri wirklich mit anderen Georgiern dort zusammenlebte. Er sagte auch, dass der Verein sich in dem gleichen Haus befand. Dann wurde es verkauft und die dort lebenden Georgier haben sich zerstreut.

Sollten wir davon Kopien anfertigen? Jetzt vielleicht die größte Überraschung: Ich bin seine Enkelin, ich konnte das gesamte Archiv mitnehmen. Alle Bücher, alle Schriften, alle Dokumente. Unsere Mission war erfüllt.

Ein Anruf nach Georgien, aus einer Telefonzelle irgendwo zwischen Basel und Burgund, ein Anruf, den Dimitri bestimmt gerne gemacht hätte und den er nie machen konnte. Wir haben alles von ihn erhalten. Tränen auf beiden Seiten des Hörers, Tränen der Freude.

Ich wusste nicht sehr viel von meinem Großvater. Die nächsten Tage waren damit angefüllt, die Briefe zu studieren. Er war mehrere Jahre lang Sekretär des georgischen Vereins in Sochaux, hat Korrespondenz geführt mit wichtigen Personen der Emigration aus Georgien, mit dem früheren Präsidenten, mit bekannten Schriftstellern. Ein Gefühl von Stolz beschlich mich.

Danach fing ich an, die aus Georgien erhaltenen Briefe zu lesen. Die meisten von ihnen sind Briefe von meiner Großmutter. Fast in allen Briefen fragt sie: «Wann kommst Du?» und « Bitte komm». Großmutter hat immer auf ihn gewartet, genauso wie andere Familienmitglieder und Verwandte. Für Dimitri war es sicher schmerzhaft, dieses zu lesen. Sie kann man nicht lesen, ohne Tränen zu vergießen. Ich versuchte, seine Gefühle zu verstehen, was ihn die ganzen Jahre bewegte. Wer weiß, vielleicht hat er sich die Schuld gegeben, dass er Frau und drei Kinder verlassen hat, in den Krieg zog, um seine Heimat zu verteidigen, die ihn danach nicht mehr wollte. Vielleicht stellte er sich deswegen diese Frage:

«Was hat mich hierher verschlagen,
Was suche ich auf fremder Erde?
Wer hat es mir verboten,
Zu leben in meinem Tal und Berge».

Das Leben ohne Familie, Verwandte und Heimat hat ihn sehr getroffen. Zum Beweis genügen seine Gedichte, besonders «Flüchtling»:

«Ich bin unglücklich, trostlos, Flüchtling in fremde Erde gegossen,
Sünder mit Gewalt, gesteinigt, getreten mit Füßen.
Bin schlaflos, habe weder Mutter, noch Frau und Kind,
Tränen vergossen, vom Leben getadelt, ganz ausgelöscht und blind».

Nun ist es an mir, seinen Nachlass zu verwalten, zu ordnen, zu veröffentlichen. Wir wissen jetzt, was er diese Jahre gemacht hat. Dass er direkt nach dem Krieg studierte. Dass er nach Frankreich kam und eine Stelle im Automobilwerk von Peugeot fand, wo er bis zu seiner Rente blieb. Er war dort nicht alleine, 300 Georgier waren dort beschäftigt. Die letzten Jahre in einem Altenheim, südlich der Ardennen.

Was wir auch vorher nicht wussten, sondern sich in seinem Nachlass offenbarte: Im Jahr 2008 wäre Dimitri Kimeridze 100 Jahre alt geworden.