Ein Tunnel unter dem Kaukasus

Ein beliebtes Reiseziel in Georgien ist das Bergdorf Schatili mit seinen malerischen Wehrtümen, die von einer kriegerischen Vergangenheit erzählen. Auf dem Weg dorthin fährt man durch den Kaukasus über unbefestigte Straßen, sieht selten ein anderes Auto und noch seltener Dörfer. Dann aber fährt man um eine Ecke und sieht ein riesiges Bauwerk aus Beton: Drei Tunnelröhren sind in den Berg getrieben, so groß, dass sie locker dem Tunnel unter dem Ärmelkanal Konkurrenz machen können. Und das mitten in der georgischen Wildnis. Nur diese kleine Straße führt hierhin, kein Mensch wohnt hier, keine Bahn ist in der Nähe. Was also soll dieser Tunnel? 

Hier ist die Geschichte eines dieser Bauwerke, die das Ende der Sowjetunion in Beton dokumentieren.

Die Idee zur Kaukasus-Querbahn

In der Schweiz ist 2016 der neue Gotthardtunnel in Betrieb genommen worden. Damit ist die wichtigste Bahnverbindung unter den Alpen bereit für den internationalen Bahnverkehr. Für den Kaukasus gab es in der Zeit der Sowjetunion ein ähnliches Projekt für den Kaukasus: Einen Tunnel für die Kaukasus-Querbahn unter dem nördlichen Hauptkamm des Gebirges hindurch. 

Ideen zu solch einem Projekt gab es bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Es sollte einige Jahre dauern, bis man sich an die Realisierung dieses Projektes machte. Die Vorteile einer solchen Lösung liegen auf der Hand: Die Bahnverbindung zwischen Tbilissi und Russland führt entweder am Schwarzen Meer oder am Kaspischen Meer vorbei. Dies stellte ein Problem für die sowjetische Industrie dar: Nicht nur, dass sich wichtige Rohstoffquellen, Minen und Bergwerke in Georgien befanden und die Rohstoffe in die Industriereviere nach Russland und die Ukraine gebracht werden wollten. Auch das Stahlwerk von Rustawi und die maschinenverarbeitenden Betriebe in Tbilissi konnten ihre Waren nun leichter in die übrigen Teile der Sowjetunion befördern. Die Strecke zwischen Tbilissi und Wladikawkaz würde sich um 400 km verkürzen. Die Bahnverbindung hätte also einen massiven wirtschaftlichen Vorteil gebracht.

Planung der Bahnstrecke

Die Idee zu einem Tunnel unter dem Kaukasus keimte im russischen Zarenreich bereits im 19. Jahrhundert auf. Seit 1879 machte man sich Gedanken über den Bau einer Bahnverbindung, die das Streckennetz in den transkaukasischen Teilen des Reichs mit denen des übrigen Russlands verbinden sollte. Grund dafür waren weniger wirtschaftliche als mehr militärische und strategische Erwägungen. Der Krieg auf der Krim hatte gezeigt, dass die russischen Streitkräfte nicht schnell genug verlegt werden konnten, weil es an Verkehrsreinrichtungen mangelte. Initiativen zum Bau einer solchen Bahnstrecke gab es im Zarenreich mehrere, auch nach dem Beginn der Sowjetunion keimte die Idee mehrfach auf. Man untersuchte insgesamt vier Trassenführungen. Die Strecke unter dem Arkhoti-Pass wurde dann als führende Variante weiter verfolgt.

Zu Beginn der 1980er Jahre begann man mit der Planung. Das Projekt sah eine Bahnstrecke mit einer Gesamtlänge von 178 Kilometern vor. Insgesamt sollten 72 Brückenbauwerke und 38 Tunnels mit einer Gesamtlänge von 43 Kilometern entstehen. Der Tunnel unter dem Arkhoti Pass wäre damit das mit Abstand längste Tunnelbauwerk der gesamten Strecke gewesen. 26 Zufahrtsstraßen hätten gebaut werden müssen. Als Schutz vor Steinschlag, Erdrutschen und Lawinen sollten mehrere Kilometer Galerien für die Strecke durch das Hochgebirge errichtet werden. 

Die Trasse sollte von Tbilissi aus einen Teil der Georgischen Heerstraße entlang führen. Vor der Staumauer Zhinwali wäre die Bahnstrecke dann nach Osten von der Heerstraße aus abgezweigt und hätte weiter nach Norden geführt. Diese Trasse entspricht dem Verlauf des Schwarzen Aragwi. In Inguschetien hätte die Strecke dann weiter durch ein Flusstal geführt werden sollen. 

Zwischen dem georgischen und dem inguschetischen Teil der Strecke hätte es zwischen Barisakho und Gudani das wichtigste Bauwerk der gesamten Streckenführung gegeben: Einen 23,3 km langen Tunnel unter dem Hauptkamm des Kaukasus hindurch.

Die Bauarbeiten zum Tunnel

Mit den Vorarbeiten zum Tunnel hatte man im Jahr 1985 begonnen. Um Platz für die Baustelle vor dem Tunnelportal zu schaffen, wurde das Flussbett des Aragwi verlegt, denn es führte zu nah unter dem Portal vorbei. Man errichtete mehrere Gebäude. Die Trasse von der georgischen Heerstraße aus bis zum Portal wurde verbreitert, eine Hochspannungsleitung wurde angelegt. Die Führung der Trasse sollte nicht der Route der Georgischen Heerstraße entsprechen, sondern über den Arkhoti Pass nordwestlich von Tbilissi gehen und dann in einem Bogen das Flussbett des Aragwi hinauf.

Im Jahr 1987 begann man mit den Bauarbeiten. Insgesamt drei Tunnelröhren sollten entstehen: Eine mittlere für den zweispurigen Bahnverkehr sowie zwei kleinere zu jeder Seite zur Belüftung und als Wartungsstollen. Die Bauarbeiten sollten im Jahr 2000 abgeschlossen werden. Ab 1988 begann sich die wirtschaftliche Krise der Sowjetunion auf diese Baustelle auszuwirken. Im Jahr 1989 wurden die Bauarbeiten eingestellt.

Was heute vom Tunnel zu sehen ist

Zu sehen ist heute das Tunnelportal mit den Fragmenten der drei Röhren. Der mittlere, größte Tunnel für den zweispurigen Bahnbetrieb ist rund 20 m in den Fels vorgetrieben worden. Die beiden anderen Tunnel hat man 60 – 70 in den Tunnel getrieben. 

Diese Tunnelröhren kann man über Reste von Beton und Fels ersteigen und ein Stück weit in den Berg hingehen. Man hört das Geräusch von fließendem Wasser. Der Querschnitt der Röhren ist gewaltig. Ein erwachsener Mensch geht mehrfach in die Höhe der Röhren hinein. 

Ein Stück weiter neben dem Portal ist das dreistöckige Gebäude für die Bauarbeiten zu sehen. Von diesem sind heute nur noch die Betonstrukturen erhalten. Fenster und Türen haben neue Besitzer gefunden. Auf dem Beton sind Graffiti zu erkennen. 

Schräg gegenüber dem Portal sind Fundamente zu erkennen, auf denen wahrscheinlich andere Gebäude oder Maschinen für die Bauarbeiten gestanden haben. Zu erkennen ist auch die Trassierung des Flussbettes des Aragwi mit Einbauten aus Beton. 

Was auf den rund 50 km von der Staumauer Zhinwali bis zum Tunnelportal auffällt: Die Straße ist zwar oft in einem üblen Zustand und teilweise nicht asphaltiert. Die Trasse ist aber sehr breit angelegt. Zudem führt eine Hochspannungsleitung die gesamte Strecke entlang. Sobald man um die Ecke weiter zum Bärenkreuzpass und weiter Richtung Schatili fährt, wird die Trasse deutlich schmaler und die Stromleitung ist auch nicht mehr da. Hier zeigen sich die umfangreichen Vorarbeiten für den Bau des Tunnels.